Tantra und Heilung

Tantrische Veranstaltungen werden häufig mit der Aussicht auf Heilung angepriesen. Manche Teilnehmende kommen demzufolge auch mit der Erwartung, etwas in sich heilen zu können. Meine Meinung zu diesem Thema ist auch durch eigene, teils unerwartete Erfahrungen geprägt.

Es gibt ganz sicher Aspekte, die im Tantra eine positive Veränderung erfahren können. Das habe ich selbst immer wieder so erlebt: Zum Beispiel, wie glücklich man mit sich, seiner äußeren Erscheinung und seinem Wesen ist. Oder das Erlebnis, dass Erotik und Sexualität achtsam und erfüllend und nicht oberflächlich oder gar übergriffig stattfinden kann.

Heilung ist jedoch ein sehr weitgehender Begriff. Er bedeutet ja, dass eine Verletzung oder ein Leiden vollständig überwunden ist. Insofern sollte man mit diesem Begriff sehr zurückhaltend umgehen.

Sehr kritisch sehe ich tatsächlich die Idee, traumatische Erfahrungen im Tantra heilen zu wollen, insbesondere Methoden, die einen Zugang zu traumatischen Erlebnissen öffnen können. Tantra, wie es hier in Europa angeboten wird, ist ja überwiegend durch die Lehre und die Methoden Oshos geprägt. Diese Methoden stammen aus den 70er Jahren, sie werden sicherlich in guter Absicht übernommen, sind aber aus traumatherapeutischer Sicht überholt. (Diese Einschätzung stammt von Psychotherapeuten, mit denen ich darüber im Gespräch war, und sie deckt sich auch mit meinen eigenen Erlebnissen bezüglich dieser Methoden.)

Wenn wir traumatische Erfahrungen gemacht haben, z. B. in der Kindheit, sind diese in unserem Körper gespeichert und manchmal unserem Bewusstsein gar nicht mehr zugänglich. (Das „verletzte innere Kind” weiß das aber alles.) Um diese unerträglichen Erinnerungen aushalten können, sind Schutzmechanismen in uns entstanden, die manchmal als Wächter oder Beschützer bezeichnet werden, weil sie wie eigene in uns wohnende Persönlichkeiten angesprochen werden können. Diese Schutzmechanismen haben allerdings Nebeneffekte, die uns in unserem heutigen Leben hinderlich sein können, weil sie z.B. bestimmte Gefühle unterbinden oder bestimmte Verhaltensweisen hervorrufen, die uns gar nicht so lieb sind, wenn sie getriggert werden.

Es gibt nun zweierlei Möglichkeiten, wie durch Tantra ein Zugang zu alten traumatischen Erlebnissen ausgelöst werden kann. Zum einen kann es schlichtweg durch die körperlichen Berührungen und Massagen passieren, dass Blockaden gelöst werden, und auch ein Kontakt zu alten Verletzungen entsteht. Ich selbst habe dies zwar nicht so erlebt, aber in den Fällen, von denen ich erfahren habe, war dies mit positiven Veränderungen, vielleicht sogar mit Heilung verbunden. Die Wächter haben in solchen Fällen den Weg frei gegeben, weil sie erkannt hatten, dass Sicherheit besteht.

Die andere Möglichkeit, Zugang zu traumatischen Erlebnissen zu bekommen, besteht darin, die Schutzmechanismen zu überlisten. Dies kann z.B. durch Trancen oder bestimmte Meditationen passieren, die darauf abzielen, die innere Kontrolle zu umgehen. Und hier kann (ich sage nicht muss) es gefährlich werden, weil die Schutzmechanismen hierbei die Erfahrung machen, dass sie nicht gut genug aufgepasst haben und sich infolgedessen verstärken, damit dies ja nicht noch einmal passiert.

Es ist zwar so, dass, wenn man durch eine solche Methode plötzlich Zugang zu tiefen Verletzungen bekommt und man vielleicht in Tränen ausbricht, es sich zunächst gut und irgendwie befreiend anfühlt, aber dass sich häufig langfristig betrachtet, nichts verbessert. Denn das Wiedererleben eines alten Schmerzes bedeutet ein Verschmelzen mit dem verletzten inneren Kind. Man ist in einem solchen Moment nicht die stabile erwachsene Person, sondern vollkommen mit dem Schmerz des verletzten inneren Kindes identifiziert.

Das innere Kind braucht in einem solchen Moment aber Schutz und Halt. Heilsam wäre es daher, statt der Verschmelzung den Schmerz des inneren Kindes zwar zu spüren, aber dennoch in einer sicheren Erwachsenenhaltung zu bleiben und das eigene innere Kind zu trösten, so als hätte man eine kleine Tochter oder einen kleinen Sohn im Arm. Sich auf dieser Grenze zu bewegen, also den Schmerz in sich wahrzunehmen, aber sich nicht völlig darin aufzulösen, gelingt nur mit professioneller therapeutischer Unterstützung, wie sie in tantrischen Gruppenveranstaltungen jedoch kaum geboten werden kann.

Ich habe selbst häufig in tantrischen Veranstaltungen oder in Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung die oben genannten Methoden zur Überwindung der inneren Schutzmechanismen erlebt. In meiner tantrischen Anfangszeit ist es zweimal passiert, dass ich an alte Schmerzen herangekommen bin und damit verschmolzen war. In beiden Fällen hatte ich keine professionelle Begleitung. Beim ersten Mal war ich zunächst tief beeindruckt von dem Erlebnis und hielt es für einen großen Erfolg, hatte mich aber in der dann folgenden Zeit gewundert, dass es mir plötzlich schwerer fiel, Zugang zu meinem Inneren zu finden. Beim zweiten Mal hatte ich schon erste Erkenntnisse über die Zusammenhänge, die ich hier beschrieben habe, konnte mich aber dennoch nicht mehr aus dem Zustand der Verschmelzung befreien. Ich habe seitdem bewusst nicht mehr an diesen Methoden teilgenommen oder auch die Teilnahme an bestimmten Seminaren beendet.

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